Immer mehr Menschen widmen sich Yoga und Meditation. Es gibt einen regelrechten spirituellen Trend. Handelt es sich dabei um eine Modeerscheinung, oder sind die besagten positiven Auswirkungen der Meditation auf Körper und Psyche real? Ein Mann namens Siddhartha Gautama – besser bekannt als Buddha – saß schließlich auch jahrelang meditierend unter einem Bodhibaum, bis er frei von Leid war, sich selbst erkannte und Erleuchtung erlangte.
Lavendelduft und Kerzenlicht füllen den Raum. Ihre Augen sind geschlossen. Sie beobachtet ihren Atem. Die kühle Luft zieht beim Einatmen durch die Nase in die Lungen, um nur einen Moment später warm und sanft aus ihrer Nase zu fließen. Wie jeden Morgen vor dem Frühstück sitzt Mary B. im Lotussitz auf ihrem Meditationskissen. Sie übt sich in Achtsamkeit, setzt bewusst ihren Fokus auf den Moment. „Ich versuche, meine Gedanken wertfrei zu beobachten, sie anzunehmen und loszulassen“, beschreibt sie später, was sie dabei erlebt. „Das mag nach einer langweiligen Zeitverschwendung klingen. Meditation muss man einfach selbst erleben, um ihre Wirkung nachvollziehen zu können“, sagt die 39-Jährige. Die in Berlin lebende Amerikanerin und ausgebildete Yogalehrerin hat sich auf Vinyasa Yoga, die physisch intensivere Variante des Yoga, spezialisiert. Vinyasa hält sie fit und gibt ihr ein zufriedenes und ausgeglichenes Lebensgefühl. „Die Yoga-Asanas, die Körperstellungen beim Yoga, sind für mich neben dem Fitness-Aspekt bereits eine meditative Aktivität. Die Konzentration in jeder Pose bei bewusster Atmung lässt automatisch Gedanken und Sorgen verschwinden und fördert eine Verbindung zwischen meinem Körper und meinem Geist. Es geht um das Gefühl des Präsent-Seins, im Hier und Jetzt“, beschreibt sie ihre Erfahrung.
Zum regelmäßigen Meditieren, unabhängig von Yoga-Übungen, kam Mary erst bei der Teilnahme an zwei Vipassana Meditationsretreats. Sowohl in Thailand als auch in Indien gab sie sich jeweils zehn Tage der Meditation hin. „Wir haben täglich von fünf Uhr morgens bis abends um neun meditiert, abwechselnd im Sitzen und im Gehen. Alles geschah in ‚edler Stille‘, im Schweigen, um ganz bei sich zu sein. Es war eine sehr große Herausforderung für mich, ich ging verändert wieder heraus“, erzählt sie. Auch unangenehme Gefühle, wie Schmerzen vom vielen und langen Sitzen, emotionale Höhen und Tiefen, gehörten dazu. „Die ersten Tage sind die schwersten. Viele Teilnehmer brechen oft mittendrin ab“, betont sie. Doch Durchhalten lohnt sich laut Mary B.. „Von Tag zu Tag fühlte ich mehr inneren Frieden und konnte regelrecht spüren, wie sich mein Herz weiter öffnete und sich Mitgefühl mir selbst und anderen gegenüber in mir breit machte. Mein Geist wurde zunehmend ruhiger, mein Blick auf die Dinge klarer.“ Ihr fiel zudem auf, dass sich auch die durch ihre Darmerkrankung Morbus Crohn verursachten Symptome und körperlichen Leiden über die Monate verringerten. Ab diesem Zeitpunkt integrierte sie Meditation bewusster in ihren Lebensalltag und in ihren Yogaunterricht.
So wie Mary B. geht es vielen Menschen, die Yoga für sich entdeckt haben. Weltweit nimmt dieser spirituelle Gesundheitstrend zu. Mittlerweile bieten fast alle deutschen Sport-und Fitnessstudios Yogakurse an, die Zahl der freiberuflichen Yogalehrer steigt. Besonders stark ist diese Entwicklung in den Großstädten ausgeprägt. Die Stadt Berlin beispielsweise wurde in diesem Zusammenhang bereits als „Hauptstadt der deutschen Yoga-Republik“ bezeichnet. Laut der Studie „Yoga-Markt Deutschland 2016“ der Fitogram GmbH wurden in der deutschen Hauptstadt über 300, deutschlandweit über 6.000 Yogastudios gezählt. Hinzu kommen stetig wachsende Zahlen an selbständigen Yogalehrern, die ihren Unterricht auf freiberuflicher Basis im privaten Rahmen anbieten. Die Konkurrenz ist groß. Der Autor der Studie, Jonas Villwock, schätzte außerdem, dass zwischen 2,7 und drei Millionen Menschen in Deutschland Yoga praktizieren. Das sind fast vier Prozent der Bevölkerung, Tendenz steigend. Für den Großteil der Yoga-Liebhaber entspringt die Motivation aus einer gefühlten Steigerung des geistigen Wohlempfindens bei gleichzeitiger Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit.
Doch wie viele Yogis und Yoginis sich auch neben den körperlichen Yogaübungen mit reiner Meditation beschäftigen, ist schwer einzuschätzen. Dazu gibt es keine Zahlen. Laut der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) sollen in Deutschland etwa 250.000 aktive Buddhisten leben, die Hälfte davon Deutsche und die andere Hälfte eingewanderte Asiaten. Meditation und Buddhismus werden zwar oft miteinander in Verbindung gebracht, bei dem heutigen Trend dürfte jedoch die Anzahl der Buddhisten nicht mit dem Bevölkerungsanteil von Yoga-Praktizierenden oder Meditierenden in Zusammenhang stehen. Buddhisten sind nicht zwangsläufig auch Meditierende, und an Yoga und Meditation interessierte Menschen wenden sich auch nicht automatisch dem Buddhismus zu.
Verschiedene internationale Forscher haben zunehmend in den letzten zehn Jahren Studien über die gesundheitlichen Effekte und Aspekte der Meditation durchgeführt und sind sich in vielen Punkten einig. Bei intensiver Beobachtung und Untersuchung von Studienteilnehmern über Wochen und Monate konnte festgestellt werden, dass tägliche Achtsamkeitsmeditation: das Immunsystem stärkt, Blutdruck und Cholesterinspiegel senken lässt, Schlafstörungen entgegenwirkt, Symptome von Darmerkrankungen, chronische Schmerzen sowie mentalen Stress reduziert, Intuition und Körperwahrnehmung, Gedächtnis und Konzentrationsfähigkeit stärkt. Ein möglicher positiver Einfluss auf Krebserkrankungen ist ebenfalls Fokus weiterer aktueller Studien. Sehr bedeutend für das geistige und emotionale Wohlbefinden ist zudem gesteigerte Achtsamkeit und Geduld in allen Lebenssituationen, mehr emotionale Stabilität und positiveres Denken. Auch Depressionen und Ängste nehmen ab.
Schräge Töne und abstrakte Melodien vermischen sich mit Zigarettenrauch und stickiger Luft. In einer kleinen Bar in Berlin-Neukölln unterhält ein Jazz-Trio das überschaubare Publikum mit experimenteller Improvisation. Tina D. spielt das Saxophon. Die 30-jährige Wahlberlinerin aus Dänemark ist freiberufliche Musikerin und Komponistin. Mit ihrer Musik lebt sie sich kreativ aus und lässt ihrer Intuition freien Lauf. „Ich habe mich schon immer irgendwie ‚anders‘ gefühlt. Vielleicht etwas schräg wie meine Musik. Meine Emotionen sind ziemlich stark ausgeprägt, manchmal impulsiv und oft zu intensiv“, beschreibt sie. Auf zwei Dinge möchte und kann Tina D. in ihrem Leben nicht verzichten. Zum einen auf das musikalische Improvisieren, durch das sie sich frei fühlt und sie selbst sein kann, und zum anderen auf Yoga und Meditation. „Beides ist sehr wichtig für mich. Gerade das Meditieren hilft mir, meine manchmal instabile Psyche im Gleichgewicht zu halten“, betont sie.
Bei Tina D. wurde vor zehn Jahren eine bipolare Störung diagnostiziert, die auch als manisch-depressive Erkrankung bekannt ist. Sie hat in ihrem Leben viele krankheitsbedingte Aufs und Abs, Verzweiflung und Überforderung erlebt. Das Medikament Lithium, das oft bipolaren Menschen verschrieben wird, hilft ihr, nicht in emotionale Extreme zu verfallen. Es reguliert den Ausstoß der Botenstoffe Noradrenalin und Serotonin im Gehirn, die bei chemischem Ungleichgewicht für manische oder depressive Episoden sorgen können. Aber die Pillen allein reichen Tina D. für die innere Balance nicht aus: „Medikamente helfen zwar, aber sie machen nicht glücklich.“ Jede Woche geht Tina zum Yogakurs von Mary. „Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Gruppe und großartige Yogalehrerin vor zwei Jahren entdeckt habe. Die Asanas geben mir ein tolles Körpergefühl. Die abschließende Entspannungsphase und Meditation stärkt die Beziehung zu mir selbst und schenkt mir zusätzlich Ausgeglichenheit und Gelassenheit. Ich verlasse jede Yogastunde mit einem Hochgefühl, das ich immer ‚Yoga High‘ nenne“, beschreibt sie lächelnd und ergänzt: „Meditation ist für mich ein sehr guter und sehr wichtiger Freund.“
Was steckt aus medizinischer Sicht hinter diesem Wohlgefühl? Die US-amerikanische Wissenschaftlerin Sara Lazar konnte bei einer an der Harvard Universität durchgeführten Studie zusammen mit dem Massachusetts General Hospital in den USA bereits im Jahr 2011 mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG) feststellen, dass Achtsamkeitsmeditation die Hirnaktivität verändert. Bei tiefer Meditation sind beispielsweise die Wellen im Beta- und Gamma-Bereich stärker synchronisiert als im Wachzustand. Das deutet auf intensive Konzentration und Aufmerksamkeit hin. Gehirn-Scans zeigten, dass der orbitofrontale Kortex angeregt wird, ein Hirnareal, das für den Umgang mit Emotionen von Bedeutung ist. Bei dieser achtwöchigen Studie konnte zudem anhand der Magnettomographie (MRT) belegt werden, dass bei Probanden, die über acht Wochen täglich dreißig Minuten meditierten, eine vermehrte Dichte der grauen Substanz im Gehirn, genauer gesagt im Hippokampus, zu erkennen war. Dieser Hirnbereich ist für das Lernen, für das Gedächtnis, für Selbsterkenntnis, das Ichbewusstsein sowie für Mitgefühl, Empathie und Introspektion, also Selbstbeobachtung, verantwortlich. Gleichzeitig zeigten die MRT-Scans, dass sich die graue Hirnsubstanz in der Amygdala verringerte, die den „Kampf oder Flucht“-Mechanismus im Menschen sowie die körperliche Reaktion auf Angst und Stress steuert. Die Ergebnisse belegen, dass das Meditieren nicht bloß aufgrund seiner entspannenden Natur zu positiven Gefühlen und gestärkter Selbstwahrnehmung führt, sondern dass tatsächlich anatomische und chemische Veränderungen im Körper stattfinden und bestimmte Gehirnstrukturen verändert werden. Die positiven Effekte der Achtsamkeitsmeditation – weltweit als „mindfulness meditation“ bekannt – zeigten sich bereits nach kurzer Zeit.
Laut dem Systemischen Institut für Achtsamkeit in Berlin (SIA) bedeutet achtsam sein, „die Aufmerksamkeit ganz bewusst und ohne zu bewerten auf den gegenwärtigen Moment zu richten, anstatt auf ein konkretes Ziel. Der Fokus liegt dabei auf der Offenheit, Akzeptanz und nicht wertenden Beobachtung der eigenen Gedanken und Gefühle. Das erleichtert den Umgang mit schwierigen emotionalen Zuständen“. Auch Psychotherapeuten integrieren insbesondere bei Patienten mit Depressionen und Angststörungen bestimmte Achtsamkeitsübungen, um dem pessimistischen Gedankensprudel und den dadurch entstehenden negativen Gefühlen entgegenzuwirken. Das Institut für Achtsamkeit beispielsweise wurde 2001 von Dr. Linda Lehrhaupt gegründet und war das erste Fort- und Weiterbildungsinstitut für achtsamkeitsbasierte Verfahren im deutschsprachigen Raum. Die dem Institut angehörigen Therapeuten sind unter anderem auf MBRS, Mindfulness Based Stress Reduction (Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion) spezialisiert. Dieses Programm wurde in den 70er Jahren von Professor Jon Kabat-Zinn am University of Massachusetts Medical Center entwickelt und wendet eine Kombination aus Yoga, Achtsamkeitsmeditation und Körperwahrnehmung an. Studien belegen, dass MBRS dabei hilft, besser mit Krankheiten umzugehen sowie Stress, Angst und Depressionen reduziert. Diese Achtsamkeitsmethode wird auch in Deutschland von verschiedenen Krankenkassen unterstützt. Meditation hingegen ist keine für die Krankenbehandlung zugelassene Therapie. MBRS bietet eine Alternative dazu.
Unter vielen Krankenkassen bietet auch die Barmer GEK ihren Mitgliedern Entspannungskurse an. Außerdem stellt sie eine von Diplom-Psychologin Dr. Claudia Robben zusammengestellte Broschüre zur Verfügung, die einen besonderen Fokus auf Achtsamkeit und Atemübungen legt. Die Gesundheitskasse AOK Nordost hat ebenfalls eigene Angebote zum Thema Achtsamkeit und erstattet Kosten für Stressmanagement-Kurse wie MBSR. Birgit Gonska von der AOK Nordost ist für den Bereich Prävention verantwortlich und erklärt: „Wir bieten unterschiedliche Kurse in diesem Bereich an, unter anderem auch MBRS, die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Uns fällt jedoch auf, dass diese reinen achtsamkeitsbasierten und eher unbekannten Kurse nicht von vielen Mitgliedern in Anspruch genommen werden. Die Anzahl der Interessenten ist weitaus geringer, als beispielsweise bei Yogakursen. Yoga läuft immer und gut. Pilates auch. Und zurzeit ist auch Faszientraining sehr gefragt.“ Reine Achtsamkeitsmethoden scheinen also bei den meisten noch nicht so anerkannt oder bekannt zu sein. „Diese Konzepte werden wohl eher als langweilig oder mit Skepsis betrachtet. Die sportlicheren Varianten der von uns angebotenen Entspannungskurse sind vergleichsweise ein regelrechter Hit und sehr populär bei unseren Mitgliedern“, so Gonska. Eine Kombination aus Sport und Entspannung scheint am besten anzukommen. Yoga verbindet beides und ist am beliebtesten.
Was viele nicht wissen: Beim traditionellen Yoga aus Indien hatten die Yogastellungen ursprünglich den Sinn, den Körper auf die Meditation vorzubereiten. Für die „wahren Yogis“ war die tiefe Meditation das erstrebenswerte Ziel, die Asanas der Weg dahin. Die Motivation auf spiritueller Ebene sollte daher nicht außer Acht gelassen werden. Dieses Gefühl des offenen Herzens, des Mitgefühls, des inneren Friedens und des Sich-verbunden-Fühlens mit allen und allem. Der seelische Aspekt, von dem die großen Meister berichten und den sich Praktizierende wünschen. Populäre spirituelle Lehrer der Gegenwart wie Ram Dass, Deepak Chopra und Eckhart Tolle setzen sich ebenfalls intensiv mit diesen Themen auseinander. Sie versuchen in ihren sehr erfolgreichen Büchern aufzuzeigen, wie der Mensch zu seiner wahren, reinen Essenz, seiner Intuition und seiner mit allem verbundenen Seele zurückfinden kann, anstatt sich mit einer oft selbst kreierten und erlernten, problembasierten Gedankenwelt zu identifizieren. Laut diesen Experten spielt gerade die Meditation eine wesentliche Rolle bei der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung von Bewusstheit und Selbsterkenntnis. Deepak Chopra und Eckhart Tolle sind Bestseller-Autoren und ziehen weltweit Millionen von Lesern an. Das ist sicherlich ein Zeichen für die ganz natürliche menschliche Sehnsucht nach Erfüllung auf Seelenebene.
Mary B. hat sich oft gefragt, ob Meditation die Welt zum Positiveren verändern könnte, wenn jeder Einzelne nur einige Minuten am Tag meditieren würde. „Es ist reine Utopie und klingt vielleicht sehr naiv. Aber ich frage mich: Könnte unsere Welt eine bessere werden, wenn zum Beispiel in jeder Schule auf diesem Planeten Meditation ein Pflichtfach wäre? Wären Kriege, wie wir sie führen, dann auch noch möglich? Eine aus vielen achtsamen Individuen bestehende Gesellschaft kann sich doch nur in eine friedlichere und weisere Richtung entwickeln“, beschreibt sie ihre Gedanken, nimmt einen letzten Schluck Tee und schließt wieder ihre Augen.